



1. Allgemein & Problemstellung
Wusstest du, dass…
…weltweit mehr als 1,3 Milliarden Menschen mit einer Behinderung leben? Das entspricht rund 16 % der Weltbevölkerung.37 Hinzu kommen zahlreiche Menschen, die mit mentaler Gesundheit und/oder finanziellen Sorgen zu kämpfen haben oder aus verschiedenen Gründen marginalisiert werden.
Mentale Gesundheit, Diversität, Barrierefreiheit und Awareness sind nicht nur gesellschaftlich relevante Themen, sondern gewinnen auch im Veranstaltungskontext immer mehr an Bedeutung – nicht nur aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus, sondern auch als zentrale Bausteine für eine inklusive und nachhaltige Kultur.
Die Möglichkeiten der Verbesserung sozialer Aspekte sind vielfältig, egal ob im Bereich Sozialtickets, Schutz und faire Entlohnung von Arbeitnehmer*innen, Sichtbarkeit marginalisierter Personen auf der Bühne, kostenfreies Trinkwasser für alle, Einhaltung von Menschenrechten in den Lieferketten von Produkten oder Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Weitere Aspekte sozialer Nachhaltigkeit können sein: ein Veranstaltungsmanagement, das Verantwortung für sein Publikum übernimmt und ein entsprechendes Awareness-Konzept umsetzt, sowie die Wertschöpfung für den Standort erhöht durch Einbezug der regionalen Unternehmen und Initiativen.



2. Unsere Messlatte für Labor Tempelhof
Um neben ökologischer auch soziale Nachhaltigkeit gewährleisten zu können, wurden im Labor Tempelhof unterschiedliche Maßnahmen als Ziele definiert:
- Ganzheitliches Inklusionskonzept erstellen: Kann nur gemeinsam mit Menschen mit Behinderung erarbeitet werden. Im Idealfall sind Menschen mit Behinderung Teil des Kernteams.
- Awareness-Konzept vor Ort für Publikum und im Backstage-Bereich in einem der Veranstaltung angemessenen Maß.
- Transparente Informationen zu den ergriffenen Maßnahmen und Bereichen, in denen noch Barrieren abgebaut werden können.
- Kostenloses Trinkwasser für alle.
- Berücksichtigung von Diversität auf und hinter der Bühne.
- Einführung von Sozialtickets, um Menschen mit eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten den Zugang zu den Konzerten zu ermöglichen.
- Umfängliches Nachbarschaftskonzept über die Genehmigungsauflagen hinaus, um ein respektvolles Miteinander zwischen Veranstaltung und Anwohnenden herzustellen.
- Selbstverständlich: Kein Platz für Rassismus, Faschismus, Sexismus, Homo- oder Transphobie oder Antisemitismus und dies offen kommunizieren sowie eine Infrastruktur bereitstellen für den Umgang mit möglichen Vorfällen vor Ort.
- Einbindung von Non-Profit-Organisationen (NGOs) im Publikumsbereich, um Raum zu geben für Aufklärung, Sensibilisierung und Förderung sozialer (und ökologischer) Themen.
3. Was lief gut, was geht besser?
Barrierefreiheit
Was lief gut?
- Ausweitung und Optimierung der Kooperation mit Initiative Barrierefrei Feiern (IBF) im Sinne des Barrierefreiheitkonzeptes “Hinkommen, Reinkommen, Klarkommen (und Wegkommen)”
- Vor der Veranstaltung wurde mithilfe einer eigens eingerichteten E-Mail-Adresse (barrierefrei@loft.de) sowie einem ausführlichen Barrierefreiheits-FAQ so gut wie möglich über die Barrierefreiheit der Veranstaltung informiert.
- Ausreichend Parkplätze für Menschen mit Behinderung sowie barrierefreie Einlässe mit gebrieftem Personal.
- Ansprechpersonen für Menschen mit Behinderung vor Ort mit bis zu acht Mitarbeitenden der Initiative Barrierefrei Feiern.
- Zwei zusätzlich durch die Initiative Barrierefrei Feiern betreute Kommunikationskanäle während der Konzerte: eine Hotline und eine WhatsApp-Gruppe für die Kommunikation vor Ort.
- Barrierefreie Toiletten und insgesamt zwei erhöhte und zweistufige Podeste sowie separate Bereiche neben den Podesten mit Plätzen für Menschen mit Behinderung.
- Barrierearme Gestaltung der Webseiten zu Labor Tempelhof und des Guidebooks, u. a. durch die Auswahl der Farben und Schriften, Seitenstrukturierung und Responsiveness.
Was geht besser?
- Menschen mit Behinderung dauerhaft in das Kernteam einbinden, um die internen Prozesse langfristig inklusiv zu gestalten.
- Noch umfangreichere Maßnahmen umsetzen (z.B. Barriefreiheits-FAQ und weitere Informationen zum Projekt in Leichter Sprache).
- Mehr Gewerke im Vorfeld für die soziale Dimension und das Thema Barrierefreiheit sensibilisieren. Beispielsweise durch Schulungen oder Workshops, insbesondere das Security Personal.
- Geländebesichtigung “barrierefrei” während der Aufbauphase durch IBF-Mitarbeitende
- Bessere Planung für eventuell separate Abläufe von Menschen mit Behinderung im Havariefall
Anti-Diskriminierung und Awareness
Was lief gut?
- Anlaufstelle “Awareness-Infopoint” auf dem Gelände, betreut durch IBF
- Umfassendes mündliches und schriftliches Briefing aller örtlichen Gewerke und Einbindung von Gastronomie, Sicherheitspersonal und Produktion.
- Information für das Publikum über Awareness-Konzept vor Ort über zahlreiche Informationsplakate, sowie über Videoscreens.
Was geht besser?
- Vertiefende Teamschulung
- Berücksichtigung eines diversen Lineups (Vorbands)
- Information aller Mitarbeitenden in allen Gewerken, insbesondere im Publikumsbereich, dass der “Awareness-Point” auch für sie da ist bei Bedarf
Sozialtickets
Was lief gut?
- Einführung eines vergünstigten Sozialtickets, um auch gering verdienenden Menschen die Teilnahme an Kulturveranstaltungen zu ermöglichen. Das Sozialticket war gegen Vorlage des “Berechtigungsnachweises Berlin Ticket S“ erhältlich.
- Das Handling der Sozialtickets lief sowohl in der Verkaufsabwicklung als auch beim Einlass sehr gut. Alle Rückmeldungen von Nutzer*innen waren positiv.
Was geht besser?
- Vergleichbare bundesweite Regelung, um über die Vergabe von Sozialtickets einheitlich entscheiden zu können.
Sonstiges
Was lief gut?
- Kostenloses Trinkwasser an sechs Ausgabestellen für Publikum und Produktion.
- NGOs vor Ort: Viva Con Agua, Kein Bock auf Nazis, Music Saves Ukraine, C2C NGO Ehrenamt
- Gästelistenspenden an NGO: Music Saves Ukraine
- Anwohnerschutzkonzept und Kompensationsprogramm für die Bewohner*innen der Geflüchtetenunterkunft Tempohomes
- Einhaltung der gesetzlichen Standards zu Arbeits- und Pausenzeiten, u.a. durch einen Arbeitsschutzbeauftragten.
Was geht besser?
- Verbesserung der Organisation und Verfügbarkeit von Bechern/Gefäßen für die kostenfreien Trinkwasserstellen.



4. Erkenntnisse & Empfehlungen
- Rund um das Thema Barrierefreiheit wurden mehr als 500 direkte Publikumskontakte vor Ort am Meeting-Point und via Telefonhotline registriert. Ca. 0,5 % der Besuchenden waren Menschen mit Behinderung.
- Ausreichend Vorlaufzeit und ausreichend Personal für das Barrierefreiheits-Team einplanen.
- Bei der Personalplanung bedenken, dass der Großteil der Anfragen kurz vor der Veranstaltung eingeht.
- Viele Menschen können sich Eintrittspreise für Kulturveranstaltungen nicht leisten, daher wurde das Sozialticket eingeführt.
- Es handelt sich um ein Kontingent vergünstigter Tickets, die gegen Vorlage des „Berechtigungsnachweises Berlin Ticket S“ ermäßigt 19,90 Euro statt 83,00 Euro kosteten.
- Kultur ist ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und sollte nicht zum Luxusgut werden. Indem wir den Zugang zu Konzerten fördern, tragen wir aktiv zur Integration und Teilhabe bei und schaffen eine Plattform für den Austausch und die Gemeinschaft.
- Der Berliner Berechtigungsnachweise Ticket S diente uns als Kriterium für die Entscheidung, wer Anspruch auf ein Sozialticket hat. Grundsätzlich könnten Veranstaltende auch einen eigenen Kriterienkatalog erarbeiten, speziell in Bundesländern ohne vergleichbaren Bezugsschein wie dem Berliner Ticket S. Wünschenswert wäre aber eine bundesweite einheitliche Regelung.
- In der Musikbranche wird Barrierefreiheit häufig nur in einem engen Rahmen verstanden, oft beschränkt auf die Teilhabe von Menschen mit sichtbaren Behinderungen, wie etwa Rollstuhlfahrenden.
- Denkt über diesen Tellerrand hinaus. Es gibt zum Beispiel bereits Erfahrungen mit dem Einsatz von Gebärdendolmetscher*innen bei Veranstaltungen.
- Ein weiterer Ansatz ist, Informationen auf Webseiten für Veranstaltungen für sehbehinderte Menschen zugänglich zu machen.
- Das Thema Inklusion insgesamt auch durch Bands/Künstler*innen auf der Bühne ansprechen.
- Das Thema Awareness und die Erreichbarkeit geschulten Personals vor Ort, ebenso, durch entsprechende Information, auch für alle Mitarbeitenden und dienstleistenden Gewerke zugänglich machen.
- Ein durchdachtes Anwohnerschutz- und Kompensationskonzept, über genehmigungsrelevante Auflagen hinaus, trägt wesentlich dazu bei, dass wir uns aktiv mit dem Veranstaltungsumfeld auseinandersetzen und dessen Bedürfnisse berücksichtigen. Das fördert den Dialog und die Kommunikation mit den Anwohnenden und schafft ein respektvolles Miteinander, indem wir auf Anliegen und mögliche Beeinträchtigungen reagieren können.
- Anwohnerschutzkonzept mit Anwohnerschreiben und -telefon, sowie die eigens eingerichtete E-Mail-Adresse
- Kompensationsprogramm für die Bewohner*innen der Geflüchtetenunterkunft Tempohomes.
5. Kontakte/Dienstleistende
- Konzept Barrierefreiheit & Awareness Info-Point: Initiative Barrierefrei Feiern; Inklusion muss laut sein



6. Weitere Inspiration aus der Branche
Das PULS Open Air (Kapazität 12.000) auf Schloss Kaltenberg setzt seit der ersten Ausgabe 2016 einen Schwerpunkt auf Inklusion: Das Veranstaltungsteam wurde im Rahmen von Fortbildungen geschult und hat gemeinsam mit Expert*innen der Initiative Barrierefrei Feiern ein Barrierefreiheits- und Inklusionskonzept für das Festival erstellt und umgesetzt. Es reicht vom Ticketkauf über die Webseite und dort detailliert bereitgestellte Informationen zur Anreise und dem Gelände und seinen Gegebenheiten (Parkplätze, Camping) bis hin zur persönlichen Unterstützung vor Ort. Alles bei dem Festival ist möglichst barrierefrei gestaltet. Das PULS Open Air achtet daneben zudem auf ein ausgewogenes Lineup, bei dem zuletzt über 50 % der Acts weibliche Beteiligung hatten.38
Die Band Kochkraft durch KMA und das Label Ladies&Ladys haben als kreative Antwort auf das seit Jahren männlich dominierte Lineup großer deutscher Musikfestivals einen Sampler namens “Cock Am Ring” veröffentlicht. Hierauf covern 24 Acts (mit großem FLINTA*-Anteil) die Songs der Männerbands, die im Lineup von “Rock Am Ring” zu finden sind oder waren.39