1. Allgemein & Problemstellung
Wusstest du, dass…
… ein Großteil unserer Kleidung unter prekären Bedingungen produziert wird? 80 % der Menschen in der Textilindustrie sind Frauen und Mädchen, die durchschnittlich über 60 Stunden pro Woche für weniger als 18 Cent pro Stunde arbeiten und dabei in Kontakt mit giftigen Chemikalien kommen. Zudem benötigt ein konventionell produziertes T-Shirt aus Baumwolle mehr als 2.000 Liter Wasser in der Herstellung.49
Die Textilbranche ist laut der EU eine der schädlichsten Industrien weltweit – beginnend beim Anbau und Abbau von Rohstoffen, über die Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie die Nutzung ungeeigneter Materialien, bis hin zum Konsum. In der Veranstaltungsbranche kommen Textilien nicht nur in Form von Bekleidung wie Merchandise-T-Shirts oder Arbeitskleidung zum Einsatz, sondern auch als Molton, Teppiche oder Sitzbezüge in Theatern etc. Damit hat die Branche auch einen Hebel, Textilien in einer Qualität einzufordern, die weder Mensch noch Umwelt schadet.
Die Herausforderung der Merchandise-Herstellung für Veranstaltungen liegt in der Produktion und Lieferkette. Die Ware muss im Idealfall schnell lieferbar und nachproduzierbar sein, da begrenzte Lagerkapazitäten zur Verfügung stehen und die Ware vorfinanziert werden muss.
Für Veranstaltende und Bands ist Merchandise ein wichtiger monetärer Hebel und Werbeträger, der nicht zu Lasten anderer Menschen und der Umwelt gehen darf. Ein Paradigmenwechsel und das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Handeln sind notwendig.
2. Unsere Messlatte für Labor Tempelhof
Im Labor Tempelhof war das Ziel, sowohl beim Merchandise als auch bei Nutztextilien und Arbeitskleidung auf fair produzierte, nachhaltige Produkte unter Berücksichtigung von Cradle to Cradle zu setzen:
- Im Idealfall sämtliche Textilien in Cradle to Cradle-Qualität.
- Als Alternative Zertifizierungen wie Fairtrade, GOTS oder andere vom Grünen Knopf anerkannte Zertifikate, die auch die Einhaltung von Menschenrechten entlang der Lieferketten beinhalten.
- Genaue Planung des Bedarfs und limitierte Mengen, um Überproduktion vorzubeugen.
- Optimalerweise regionale Produktion und kurze Transportwege.
- Materialgesunde Druckfarben und kreislauffähige Materialien einsetzen.
- Merchandise T-Shirts nutzen, um dem Publikum die Kreislaufführung von Materialien in der Textilbranche zu erklären.
- Keine Einzelverpackung von Merchandise und Textilien und vollständig kreislauffähiges Verpackungsmaterial wählen.
- Bei allen Merchandise-Artikeln überlegen, ob sie wirklich notwendig sind (Feuerzeuge, Leuchtstäbe etc.) und inwiefern es Alternativen in Cradle to Cradle-Qualität gibt.
- Bei Merchandise-Bechern (mit Aufdruck zur Tour im Gastro-Bereich ausgegeben) auf materialgesundes Mehrwegprodukt setzen.
3. Was lief gut, was geht besser?
Beim Labor Tempelhof wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um dem Thema faires, nachhaltiges und kreislauffähiges Merchandise gerecht zu werden:
Was lief gut?
- 20.000 C2C-zertifizierte T-Shirts für Die Ärzte und Die Toten Hosen wurden produziert. Diese T-Shirts sind unter anderem mit erneuerbarer Energie und materialgesunder Druckfarbe hergestellt worden. Die Fasern können immer wieder verwendet werden und sind trotzdem biologisch abbaubar. Es handelte sich um die bisher größte Produktion von C2C-zertifiziertem Merchandise in Europa.
- Erstellung eines Materialpasses der Merch T-Shirts, der in Form eines QR-Codes eingesehen werden kann. So kann die Lieferkette der Produkte transparent zurückverfolgt werden.50
- Restlicher Merchandise von Die Ärzte und Die Toten Hosen sind aus GOTS-zertifizierten natürlichen Fasern wie Bio-Baumwolle.
- Merchandise-Becher für das Publikum sind Mehrwegbecher.
- Bildungsprojekt: recyclebarer Bühnenstoff (B1-Molton) im “Cradle Village”.
Was geht besser?
- Alle Merchandise-Textilien vollständig aus C2C-zertifiziertem Material. Bei Labor Tempelhof gelang das nicht aufgrund der langen Produktionslaufzeiten und pandemiebedingten Lieferkettenschwierigkeiten.
- Bei den Merchandise-Mehrwegbechern auch noch materialgesunde Druckfarbe einsetzen.
4. Erkenntnisse & Empfehlungen
- C2C-zertifizierte Merchandise-T-Shirts sind heute noch die absolute Ausnahme. Das bringt mehrere Herausforderungen mit sich.
- Längere Produktionslaufzeit einkalkulieren: C2C Druckverfahren benötigen mehr Zeit als herkömmliche Druckverfahren, da die Druckpaste anders verarbeitet wird.
- Zeitlichen und finanziellen Mehraufwand bei der Umsetzung von C2C-Merchandise bewusst machen. Es gibt unterschiedliche Anbieter von C2C-zertifizierten T-Shirts zu sehr unterschiedlichen Preispunkten. Im Labor Tempelhof waren wir im Gespräch mit Anbietern, deren unbedruckte Ware zwischen 0,5 und 12-mal teurer war als ein T-Shirt nach GOTS-Standard. Letztlich lagen die Mehrkosten für das fertig bedruckte Shirt bei Faktor 3.
- Erläuterung zur Kreislauffähigkeit eines C2C-T-Shirts und die Nachverfolgbarkeit der Lieferkette via QR-Code sind einfach umzusetzen und tragen dazu bei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie die Textilindustrie insgesamt verändert werden kann.
- Je größer die Auflage, desto günstiger wird der Preis: Über große Mengen können Veranstaltende, Merchandise-Unternehmen und Künstler*innen dazu beitragen, die Textilindustrie strukturell zu verändern.
6. Weitere Inspiration aus der Branche
Auch andere Veranstaltungen und Künstler*innen setzen sich mit nachhaltigem Merchandise auseinander:
Milky Chance denken in Zusammenarbeit mit dem Merchandise-Anbieter Sustain das Thema Merch neu: Die Fans können vor Ort auf Konzerten ihre selbst mitgebrachten T-Shirts per Siebdruck bedrucken lassen. So wird der Neuherstellung von Kleidung entgegengewirkt, während gleichzeitig Fans ein spezielles, limitiertes und nur örtlich verfügbares Design erhalten. Damit gibt es auf jedem Milky Chance-Konzert Second Hand-Merch.51
Auch The 1975 haben bei ihren Auftritten beim Leeds/Reading Festival Merchandise recycelt und vor Ort per Siebdruckmaschine bedruckt: Fans brachten alte 1975 T-Shirts von zuhause mit und erhielten vor Ort kostenfrei ein aktualisiertes Design. Auch alte Merch-Artikel aus dem Lager der Band wurden vor Ort neu bedruckt.52